Zum Ende des Jahres haben wir bei Project Elpida über die Ereignisse die Ereignisse reflektiert, die uns 2023 beschäftigt haben. Mit Blick auf das Jahr 2024 ist es wichtig, die ausschlaggebendsten Entwicklungen der letzten zwölf Monate Revue passieren zu lassen.
Zum Ende des Jahres haben wir bei Project Elpida über die Ereignisse die Ereignisse reflektiert, die uns 2023 beschäftigt haben. Mit Blick auf das Jahr 2024 ist es wichtig, die ausschlaggebendsten Entwicklungen der letzten zwölf Monate Revue passieren zu lassen.
Humanitäre Helfer*innen vor Gericht in Griechenland: Ein zunehmendes Phänomen
Das Jahr begann mit den damals aktuellsten Entwicklungen im Gerichtsverfahren gegen Sean Binder, Sara Mardini, Nasos Karakitsos und zwanzig anderen humanitären Helfer*innen, die zuvor als Freiwillige für die Organisation “ERCI” auf Lesbos tätig gewesen waren. Das Gerichtsverfahren hatte damals gerade erst begonnen, da unter anderem der Ausbruch der COVID19-Pandemie für die wiederholte Vertagung des Prozesses um mehr als vier Jahre gesorgt hatte. Während die Anklage wegen Ordnungswidrigkeit gegen die Verteidiger:innen abgewiesen wurde, blieb zunächst unklar, wie das Gericht über die verbleibende Anklage wegen eines Strafbestands urteilen würde.
Als die Berufung eines Staatsanwalts zur Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die ehemaligen “ERCI”-Freiwilligen den Fall vor den Obersten Gerichtshof führte, wurde die ursprüngliche Entscheidung, die Klage abzuweisen, bestätigt. Dieser Prozess führte jedoch zu einer Verlängerung der Strapazen der Aktivist:innen und ihr Fall bleibt leider noch immer offen. Nach Angaben der Anwaltskanzlei, die Sean Binder vor Gericht vertritt, kann der 29-jährige Jurastudent sein Studium und Ausbildung allerdings trotz laufender Anhörungen gegen ihn fortsetzen. Sara Mardini, die ebenfalls zu den prominentesten Prozessbeteiligten gehört, wurde der Einreise in Griechenland verweigert, sodass sie bei Gerichtsverhandlungen nicht anwesend sein konnte. Es bleibt nach wie vor unklar, ob ihr die Einreise für relevante Termine im Jahr 2024 gestattet wird.
Dieses Verfahren, wenngleich das prominenteste Beispiel ist nur einer von vielen; die Kriminalisierung von humanitären Helfer*innen ist im Jahr 2023 zu einer besorgniserregenden Realität geworden, die wir auch im Jahr 2024 mit Besorgnis beobachten werden.
Anhaltende Forderungen nach der Errichtung eines Zauns entlang der bulgarisch-türkischen Grenze
Im Februar wandten Menschenrechtsexpert:innen in ganz Europa den Blick auf das eintägige Gipfeltreffen des Sonderrats der Europäischen Union, auf dem “dringende Angelegenheiten”, wie das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien sowie der Krieg in der Ukraine erörtert wurden. Als der Rat die Verhandlungen über die so genannte “Migrationssituation” eröffnete , wurde erneut die Frage nach einem Grenzzaun an der bulgarisch-türkischen Grenze erörtert. Während der eintägige Gipfel zu dem Beschluss führte, die Sicherheit der “EU-Außengrenze” zu erhöhen und die “uneingeschränkte Unterstützung” des Rates für die Grenzagentur FRONTEX zu bekräftigen, gab es keine endgültige Einigung in der Frage des Zauns.
Doch nicht zuletzt die laufenden Verhandlungen über die Aufnahme Bulgariens in die Schengen-Zone haben diese Frage weiter in den Mittelpunkt gerückt. Während Mitgliedstaaten wie die Niederlande und Österreich aufgrund der Auswirkungen auf die so genannte “Westbalkanroute” sich nach wie vor gegen einen Beitritt Bulgariens zur “grenzenlosen Zone” stellen, schlagen Menschenrechtsexpert*innen wegen der von bulgarischen Grenzbeamt*innen ausgeübten Gewalt gegen Flüchtende Alarm.
Nachdem sich die Spannungen an der Grenze im Laufe des Jahres 2023 zuspitzen, Dutzende von Todesopfern forderten und zu Hunderten von illegalen Pushbacks führten, scheint die Thematik des Grenzzauns wieder vermehrt auf der europäischen Agenda zu erscheinen. Erst im vergangenen Oktober versicherten bulgarische Repräsentant*innen den österreichischen Behörden bei einem Besuch des österreichischen Nationalratspräsidenten im bulgarisch-türkischen Grenzgebiet ausdrücklich, dass die Grenze zur Türkei “gut bewacht” sei.
Solange das vorherrschende Narrativ in der EU das Thema der angeblichen “Sicherheit” über das der Menschenrechte stellt, werden Forderungen wie militarisierte Grenzzäune bei politischen Entscheidungsträger*innen weiterhin weit verbreitet sein und könnten sogar noch vermehrter zur Realität werden.
Verlängerung des "EU-Türkei-Deals" von 2016
Unterdessen standen auch die jüngsten Entwicklungen in Bezug auf den “Gemeinsamen Aktionsplan EU-Türkei” im Rampenlicht, der sich im März 2023 zum siebten Mal jährte. Project Elpida unterzeichnete zusammen mit 19 anderen NGOs einen offenen Brief, in dem sie forderten, dass der sogenannte “EU-Türkei-Deal” nicht verlängert werden sollte. Das bilaterale Abkommen sah eine stärkere Kontrolle der gemeinsamen Grenzregionen im Gegenzug für 3 bis 6 Milliarden Euro an die Türkei vor, deren Zahlungsströme 2023 ausgesetzt wurden.
Obwohl die daraus resultierende erhöhte Gefahr für Menschen auf der Flucht für Menschenrechtsexpert*innen eine berechtigte Sorge darstellt, äußerten griechische Staatsvertrer*innen im vergangenen Herbst, dass eine Verlängerung und Erweiterung des 2016 geschlossenen Abkommens angestrebt werde.
Nach einem Treffen zwischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis und Präsident Recep Tayyip Erdoğan in New York, erklärte der griechische Migrationsminister in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, dass die griechischen Behörden “unmittelbares Interesse” an einem solchen Beschluss hätten. Dies ist eine besorgniserregende Entwicklung. Expert*innen sind sich einig , dass die bilaterale Erklärung zu exponentiell höheren Risiken für Geflüchtete in der EU geführt hat, vor allem wegen deren Konfrontation mit strengeren Sicherheitsmaßnahmen.
Die politischen Maßnahmen des “Deals” haben nachweislich zu mehr Gewalt an den Grenzen geführt sowie die de facto Politik der gewaltsamen Festnahmen ermöglicht. Vor allem aber trägt der “EU-Türkei-Deal” erheblich zur Normalisierung und Legitimierung illegaler Pushbacks bei, die im Sommer 2023 erneut einen Höhepunkt erreichten.
Erneuter Wahlsieg der konservativen Partei "Nea Dimokratia" in Griechenland
Die Entwicklungen in der griechischen Politik fanden auch im Jahr 2023 zunehmend internationale Beachtung, da im Mai die nationalen Wahlen stattfanden. In einem Blogbeitrag im Vorfeld der Wahlen hatte Project Elpida die Auswirkungen eines erneuten Wahlsiegs von Mitsotakis´ konservativer Partei “Nea Dimokratia” auf die Migrationspolitik seit dem Amtsantritt von Kyriakos Mitsotakis im Jahr 2019 reflektiert. Nun, da “Nea Dimokratia” tatsächlich für eine weitere Amtszeit das Kabinett des Landes bildet, ist die anhaltend restriktive Linie in der Migrationspolitik der Partei auch im neuen Jahr Realität. Daher planen wir, die Entwicklungen seit der Wiederwahl von Mitsotakis im Jahr 2024 zu rekapitulieren, zumal sich sein Amtsantritt in diesem Jahr zum fünften Mal jähren wird.
“Migrationsgipfel” in Deutschland: Was wurde beschlossen?
Während in Griechenland Wahlen anstanden, trafen sich in Deutschland Bund und Länder am 10. Mai für einen “Migrationsgipfel”, bei dem sich Vertreter*innen der 16 Bundesländer über die Politik für Menschen auf der Flucht berieten.
Zuvor waren vermehrt Stimmen laut geworden, die das Management der so genannten “Integrationsprogramme” optimieren wollten, was von Finanzminister Christian Lindner (FDP) wiederholt abgelehnt worden war. Humanitäre Organisationen in Deutschland äußerten im Vorfeld die Sorge, die Beschlüsse des Gipfels könnten zu einer verstärkten Externalisierung der Grenzpolitik führen.
In einem offenen Brief, der von 12 NGOs mitunterzeichnet wurde, hatte sich Project Elpida den Forderungen nach einer verstärkten Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland angeschlossen, mit einer besonderen Sensibilität für jene, die von intersektionellen Marginalisierung betroffen sind.
Trotz der Zusage von Bundeskanzler Olaf Scholz zum Abschluss des Gipfels, eine zusätzliche Milliarde vom Bund an die Länder auszuzahlen, forderten die Ländervertreter:innen ein neues Treffen für Herbst 2023. In einem im vergangenen November veröffentlichten Beschlusspapier wurden nun die endgültigen gemeinsamen Beschlüsse skizziert. Dazu gehören die Umwandlung des derzeitigen Bund-Länder-Finanzierungssystems in eine “Pro-Kopf-Pauschale” für jede*n Asylbewerber:in, die Ausgestaltung eines “Bezahlkarten”-Modells anstelle von Bargeldzahlungen an Geflüchtete sowie die Einsetzung einer Sonderkommission für flucht- und migrationsrelevante Themen.
Ergebnis des Novembertreffens war aber auch eine Einigung auf stärkere Grenzkontrollen, verstärkte Abschiebungen, welche durch bilaterale Abkommen mit bestimmten Herkunftsstaaten ermöglicht werden sollen - und tatsächlich eine verstärkte Externalisierung des Asylantragsverfahrens.
Vor dem Hintergrund des sogenannten “Ruanda-Deals”, der von Großbritannien im Dezember 2023 abschließend umgesetzt wurde, ist diese Entwicklung für die internationale Solidaritätsgemeinschaft und die Menschen auf der Flucht in Europa äußerst besorgniserregend. Gleichzeitig spiegelt sich diese Entwicklung auch auf EU-weiter Ebene wider.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS): Welche Änderungen wird der EU-Rat im April umsetzen?
Zu Beginn des vergangenen Sommers diskutierte Project Elpida die mögliche Reform des derzeitigen “Gemeinsamen Europäischen Asylsystems” (GEAS) der EU. Hierbei handelt es sich um ein Thema, das nach der Ankunft von mehreren Millionen Menschen aus der Ukraine zunehmend an Bedeutung gewann.
Auch wenn die endgültigen Beschlüsse erst im Laufe der ersten Jahreshälfte 2024 gefasst werden, ist der aktuelle Reformplan online einsehbar. Laut der offiziellen Website des EU-Rates soll die Reform die Behandlung von Asylbewerber*innen in allen Mitgliedsstaaten vereinheitlichen.
Das Ziel der Union, das Verfahren zu standardisieren und für alle Antragsteller zu beschleunigen, birgt jedoch große Risiken für Geflüchtete, da der aktuelle Vorschlag weniger Möglichkeiten zur individuellen und sensiblen Prüfung jeden Antrags vorsieht. Insbesondere das Ziel, as System “effizienter” zu machen, sodass es “dem Migrationsdruck besser standhalten” könne, impliziert, dass der derzeitige Trend, Erstaufnahmeeinrichtungen wie die auf Chios und Samos in abgelegenere, isolierte und stark gesicherte Lager umzuwandeln, anhalten wird. Dies ermöglicht Geflüchteten eindeutig weniger Mobilität, führt auf der Staatsebene zu weniger Transparenz und Rechenschaftspflicht und verstärkt die staatliche Kontrolle.
2023 - Ein tödliches Jahr
Die Brände in der nordgriechischen Region Evros im August 2023 forderten Dutzende von Opfern, darunter auch mindestens 19 Menschen auf der Flucht, die sich in einem Waldstück versteckt hielten. Diese erschütternde Nachricht machte einmal mehr deutlich, wie verletzlich Menschen mit Fluchterfahrungen in Europa sind und wie groß das Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden und Einsatzkräften ist, selbst in schwerwiegenden Notsituationen.
Auch die Zunahme von Rechtsextremismus und gezielter Gewalt rückten zum wiederholten Mal in den Vordergrund. Darüber hinaus führte der Schiffbruch vor der Küste von Pylos, der als der tödlichste Vorfall dieser Art im Mittelmeer in den letzten Jahren geschätzt wurde, zum Tod von mehreren hundert Opfern und löste Ermittlungen gegen die griechischen Küstenwache aus. Bereits bestehende Anschuldigungen gegen die Küstenwache wurden bestätigt, als eine detaillierte Zeitleiste des Tages von Investigativjournalist*innen entschlüsselt wurde. Die unabhängige griechische Medienplattform “Solomon” sowie “StrgF/ARD” und “The Guardian” deckten sie auf, dass zahlreiche Hilferufe von Menschen an Deck ignoriert worden waren und daher das Wohlergehen von rund 700 Passagieren vorsätzlich vernachlässigt wurde.
Obwohl beide Ereignisse internationale Schlagzeilen machten und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für längere Zeit auf sich zogen, waren sie bei weitem nicht die einzigen Nachrichten über den Tod von Geflüchteten an den so genannten “EU-Außengrenzen”. Am 9. August forderte ein Schiffsunglück vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa 41 Menschenleben. Vier Passagiere überlebten das Unglück. Sie gaben gegenüber den italienischen Behörden an, dass sie ursprünglich von der tunesischen Küstenstadt Sfax aus aufgebrochen waren, einer Region, die immer wieder durch ihre Rolle in der Externalisierungspolitik der EU im Mittelpunkt steht. Am 15. Oktober ertranken außerdem drei Menschen vor der Küste der griechischen Insel Symi, und nur zwei Tage später wurden zwei weitere Leichen aus zwei verschiedenen Schiffswracks im östlichen Mittelmeer geborgen. Zuletzt kamen am 16. Dezember mindestens 61 Passagiere eines Bootes mit 86 Personen an Bord in der Nähe von Zuwara im Nordwesten Libyens um. Nach Angaben des IOM-Sprechers Flavio Di Giacomo starben 2023 im zentralen Mittelmeer mindestens 2.013 Menschen bei der Überfahrt in der Hoffnung, europäischen Boden zu erreichen. Diese Zahlen verdeutlichen erneut die fatalen Auswirkungen der aktuellen Politik zur Aufrechterhaltung der “Festung Europa”. Das Mittelmeer bleibt damit nach wie vor die gefährlichste und tödlichste Fluchtroute der Welt.
Die internationale Solidaritätsgemeinschaft ist sich heute mehr denn je bewusst, dass viele der Vorfälle, die zum Tod von Geflüchteten führen, nicht auf tragische Unfälle, sondern auf kriminelle Nachlässigkeit seitens der Behörden zurückzuführen sind.
Wie sah das Jahr 2023 für Geflüchtete aus, die in Europa ankamen?
Neben Kommentaren zu verschiedenen politischen Entscheidungen und Nachrichtenmeldungen hat das Team von Project Elpida auch die Schwierigkeiten beleuchtet, mit denen Geflüchtete in Europa zu kämpfen haben. Zudem haben wir in den letzten sechs Monaten Artikel über die Probleme der in Griechenland tätigen NGOs veröffentlicht, denen zunehmend die finanziellen Mittel fehlen, um Geflüchtete wirksam zu unterstützen, sowie über das immer wiederkehrende Problem der Inhaftierung bei der Ankunft von Menschen auf der Flucht, die entwürdigenden und unmenschlichen Bedingungen in den Haftanstalten und die erneute Relevanz der Diskussionen um den Begriff der “illegalen Einwanderung”.
Da Project Elpida bestrebt ist, die jeweiligen Konflikte, die zu Fluchtbewegungen führen, im Auge zu behalten, haben wir auch einen Überblick über die wichtigsten historischen und aktuellen Entwicklungen in Afghanistan und in Jemen veröffentlicht, zwei Länder, die inmitten des anhaltenden Krieges in der Ukraine, der leider weiterhin unzählige Opfer fordert, in Vergessenheit zu geraten drohten. Gleichzeitig verfolgen wir die Bilder aus Gaza und die internationale Gleichgültigkeit mit großer Besorgnis. Wir werden weiter für ein Europa der offenen Arme, statt verriegelter Türen einstehen.
Trotz all dieser Nachrichten über Konflikte, Todesopfer, enttäuschende politische Entwicklungen und das Fortbestehen unzähliger Herausforderungen, mit denen Geflüchtete und diejenigen, die sie unterstützen, in Europa weiterhin konfrontiert sind, können wir hoffnungsvoll bleiben. Das verdanken wir vor allem der Unterstützung, die wir und andere NGOs im Laufe des Jahres nicht nur beibehalten, sondern ausweiten konnten. Wir möchten unseren Leser:innen, Spender:innen, Follower:innen und unserem gesamten Netzwerk für das Engagement und die Fürsorge danken, die wir im Jahr 2023 gemeinsam unter Beweis gestellt haben. Der Advocacy-Blog von Project Elpida wird auch im Jahr 2024 einzelne Kampagnenberichte und Updates über die verschiedenen Standorte, an denen sich das Team engagiert, enthalten. Wir wünschen euch allen ein friedliches und frohes 2024, in dem wir weiter dafür kämpfen, dass das Recht auf Asyl gewahrt wird.
ELPIDA steht für Hoffnung
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